Te queremos, papito
von Markus K.

„Wir lieben dich, Papi.“ Ich lausche gespannt, wie das Telefon am anderen Ende offenbar eine Runde durch die Familie macht. Ein Videoanruf.
Ich höre eine Männerstimme. „Viel Kraft, Papi. Viel Segen.“ Danach eine jüngere Frauenstimme: „Wir vermissen dich hier. Wir schicken Dir Grüße. Möge es dir bald besser gehen. Du fehlst uns sehr.“ Der ältere Herr aus Bett eins winkt während dieser ermutigenden Nachrichten in die Kamera. Die Stimmen klingen angespannt. Unter seiner Beatmungsmaske lässt ihm die Maschine keinen Moment, um zu sprechen. Seine Augen erwidern die Grüße. Auch wenn das Telefonieren auf der Intensivstation nicht gestattet ist – keiner hindert ihn daran. Es könnte der letzte oder einer der letzten Anrufe sein.
Unter meiner Schutzausrüstung ist es warm. Das Atmen fällt mir schwer. Nicht nur, weil mir zwei Schutzmasken die Luft nehmen, auch weil mir inzwischen eine Träne im Auge steht. Unter meiner leicht beschlagen Schutzbrille, die ich zusätzlich unter dem Gesichtsschild trage, merkt das jedoch niemand. Ich versuche, mich wieder einem Fehler an der Reserve-Beatmungsmaschine zu widmen, wegen dem ich gekommen bin. Erneut ertönt ein Alarm. Ein Patient im anderen Bett atmet schneller, als in der Maschine vorgegeben. Ein anderer Patient hat sich die Maske abgenommen. Meine peruanische Kollegin versucht, ihn zu überzeugen, sie wieder anzulegen. Inzwischen meldet ein weiterer Monitor eine zu geringe Sauerstoff-Sättigung. Die Maschinen spielen ihr disharmonisches Konzert. Eine neumoderne Spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-Melodie, die uns nun seit einigen Tagen die Stimmung trübt und die den meisten wohl bis in ihre Träume gefolgt ist.
Vor einigen Tagen bekam ich auf Nachfrage die Auskunft, der Herr in Bett eins habe die beiden anderen Herren überlebt. Nach einigen Stunden auf der Intensivstation war ich nun natürlich etwas interessiert. Ich hatte mehr Kontakt als geplant, hatte den Männern die Masken zurechtgerückt, ihnen zwei, drei Fragen beantwortet und mit den Kabeln geholfen. Wir hofften, wenigstens den Mann aus Bett eins mit seinen auch für mich erkennbar besseren Werten, hier wieder heil herausbringen zu können. Einen Tag später musste er intubiert werden, ich hörte von einer längeren Reanimation. Dennoch verstarb auch dieser Mann. Ich erinnerte mich an das Telefonat, das ich mitbekommen hatte. Es sind die traurigen Momente bei der Arbeit zur falschen Zeit am falschen Ort. Womöglich bin ich hier aber auch genau richtig.
Die Szenen, die sich abspielen, sind befremdlich. Anstelle eines ordentlichen Bestattungsunternehmens in der Einfahrt, bestellen Angehörige teils ein normales Taxi. Daran habe ich mich inzwischen gewöhnt. Vieles, was ich hier gesehen habe, möchte ich gar nicht schreiben – es ist ein trübes Thema.
Nachdem wir vor einigen Tagen über zehn COVID-19-Erkrankte im Haus hatten, bekamen wir Schwierigkeiten mit der Sauerstoff-Produktion. Täglich, nachts wie tags, bitten Personen an der Pforte um Füllung ihrer Sauerstoff-Flaschen. Wir versuchen, allen Bedarf zu decken. Auch andere Kliniken aus dem Bundesstaat kommen in ihrer Verzweiflung zu uns, um Sauerstoff-Flaschen füllen zu lassen. Nebenher werden im Haus Korridore abgetrennt. Fast der gesamte zweite Stock ist inzwischen zur Isolier-Station umgebaut. Und leider hilft es der Gesamtsituation nicht sonderlich, dass nicht wenig Personal gekündigt hat. Teils aus Angst um ihre Gesundheit oder die ihrer Angehörigen – häufig wohnen hier drei Generationen in einem Haushalt.
Vor diesem Absatz habe ich gerade eine längere Pause gemacht und überlegt, ob ich dich mit dieser Stimmung nun einfach so allein lassen sollte und diesen Text hier beende. Wie komme ich hier raus, wie wird das rund, gibt es denn irgendetwas schönes?
Mitten in meiner Situation auf der Intensivstation mit dem Getöne der Geräte öffnet sich die Tür. Verpackt in Folie sehen wir fast alle gleich aus. Erst an der Stimme erkenne ich den Besucher. Es ist Marcos, unser junger Pastor. Ihn hätte ich hier nicht erwartet, aber er scheut sich nicht, seine Besuchs-Runde auch in den kontaminierten Bereichen fortzusetzen. Ich komme ins Staunen, denn er setzt sich zu jedem einzelnen ans Bett und fragt nach Namen und Herkunft. Er hat seine Bibel dabei – seine Zweite. Er hatte in der Zeit seiner Drogenabhängigkeit die dünnen Seiten seiner ersten Bibel zum Drehen von Zigaretten verwendet. Dabei las er die Texte und das hat ihn letztendlich von den Drogen weg zu einer tiefen inneren Überzeugung gebracht. Heute liest er diese Texte auch dem Mann aus Bett eins vor – ohne es zu wissen, Stunden vor seinem Tod. Er fragt, ob sie zusammen beten sollen. Der Mann nickt. Alle nicken. Es scheint, als sei den Herren ihre Lage bewusster als uns. Marcos lässt sich Zeit. Er möchte, dass Gottes Angebot an uns verstanden ist, dass ihn die Männer unter ihren Masken verstanden haben.
Das macht mich nachdenklich. In mir wächst der Wunsch, dass Marcos Gelegenheit hätte, uns alle zu besuchen, in einer Stunde piepsender Geräte, die sagen wollen: Es ist ernst. Und in seiner liebevollen Art würde er jedem die Lösung für das eigentliche Problem unseres Lebens erklären, das kein Mediziner je gelöst bekommt. Und er würde sich Zeit lassen.
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